Mit der Berufung von Bjørn Melhus an die Kunsthochschule Kassel im Jahr 2003 wurde eine neue Klasse ins Leben gerufen, der man damals den Titel „Virtuelle Realitäten” gab. Dieser sehr offene Begriff wurde gewählt, um die Fixierung auf ein konkretes Medium zu vermeiden. Die Bezeichnung unterscheidet sich durch ihren Plural von dem gerbräuchlichen Begriff der “Virtual Reality” aus dem angewandten Bereich. Denn virtuelle Realitäten bedeutet mehr: Im Mittelpunkt stehen Forschung und Lehre des künstlerischen Films und Videos sowie Installationen oder computerbasierten Arbeiten. Hier werden die Studierenden ermutigt, frühzeitig eine eigene künstlerische Position zu entwickeln, die inhaltlichen Fragestellungen und der Entwicklung einer ästhetischen, wie technischen Selbstsicherheit folgt. Darüber hinaus soll die kritische Wahrnehmung medialer Massenkultur und die sich der daraus ergebenden Rückschlüsse gefördert werden.
Die Lehre konzentriert sich in regelmäßigen Klassenreffen und Einzelgesprächen auf die Betreuung der freien, künstlerischen Arbeit der Studierenden. Manche der Semester sind inhaltlichen Schwerpunkten unterstellt, zu denen zusätzliche Vorlesungen, Gastvorträge, Exkursionen und Workshops angeboten werden. Großer Wert wird auch auf Kooperationsprojekten mit Klassen anderer Hochschulen gelegt.
Die vorliegenden Arbeiten sind eine Auswahl einkanaliger Videos von aktuell Studierenden und Abgängern/innen der letzten drei Jahre. Bis auf eine Ausnahme sind alle Beteiligten mit zwei Videos vertreten. Diese Auswahl repräsentiert das breite Spektrum formaler Ansätze und individuell unterschiedlichen Sichtweisen der jungen Künstlerinnen und Künstler. Dabei verschränken sich oft persönliche Themen mit Fragestellungen an die gegenwärtige Gesellschaft. Ob inszeniert, beobachtet, dokumentiert oder animiert. Alles ist möglich.
Zum Beispiel „Encierro“ von Ana Esteve Reig, das bereits schon früher auf blink zu sehen war, ist ein skurriles Musikvideo und eigene Interpretation des lateinamerikanischen Tanzes Reggeaton, in dem eindeutige, körperlich sexuelle Anspielungen des Mannes zum Ausdruck kommen. Bei Reig stecken die Männer in hessischen Polizei-Uniformen, was zum einen sehr komisch wirkt aber auch auf gängige Machtstrukturen der Geschlechterollen verweist. In ihren aktuellen Videos verabeitet die Künstlerin die wirtschaftliche Katastrophe und deren Auswirkungen in Spanien. In „Olimpiadas“ besingt eine junge spanische Sportlerin im National-Trikot die gegenwärtige Situation mit dem Lied “Wir sind nicht verrückt”. Das Stück war laut Reig bereits während der Krise 1992 sehr populär und greift Stereotypen des hedonistischen Lebens innerhalb der Kultur auf. Auch hier hat die Künstlerin eine bewusste Verschiebung vom Spanischen ins Deutsche vorgenommen, der Hintergrund des in der Fremdsprache Deutsch gesungenen Textes erscheint uns zunächst fremd, jedoch Spaniern, bzw. spanischen Immigranten sehr vertraut.
Clara Winter verarbeitet in dem künstlerischen Dokumentarfilm „Mika“ den gewaltsamen Tod eines nahe stehenden Freundes in Toulouse. Dabei verbindet sie ihre französisch selbst eingesprochenen Tagebuchaufzeichnungen mit kraftvollen Bildern, die in einer Art Notwehr des Handeln Wollens aufgenommen zu sein scheinen. Zusammen mit Lina Walde entstand während eines gemeinsamen Workshops zur Nacht an der HGB Leipzig das Video „Beziehungsarbeit 1“, in dem sich die beiden Künstlerinnen zum vorsätzlichen Männerfang in das Nachtleben der alternativen Szene Leipzig stürzen und auf absurd komische Weise die Anbahnung möglicher Paarbeziehungen erkunden. Lina Walde ist in der vorliegenden Auswahl auch noch mit dem kurzen Animationsfilm IN CIRCLES vertreten, der visuell eindrucksvoll und sehr sensibel den Weg einer Selbstbestimmung nachzeichnet.
In einem eigenen, gezeichneten, gemalten und letztendlich skulptural gebauten Bildraum agiert Kristin Meyer in LA LA LA. In dem eigentlich als Loop angelegten Video bewegt sich die Künstlerin traumartig in ihren eigenen, aus Pappmacheé gebauten vier Wänden, aus denen sie scheinbar nicht ausbrechen kann. Ein psychischer Raum wird von innen nach außen gestülpt um darin rituelle Handlungen zu vollziehen.
Mit Innen- und Außenwelten setzt sich auch Kerstin Frisch in ihren beiden Videos „Suppe“ und „Liebeslied“ auseinander. Während uns „Suppe“ die unfassbare Körperbeherrschung einer kontrolliert reversible Nahrungsaufnahme vor Augen führt, befinden wir uns in „Liebeslied“ im größtmöglichen Außenraum über den Wolken im Himmel und dabei ganz dicht an den Stimmbändern der Künstlerin und dem intimen Klang eines selbst eingesungenen Liebesliedes.
Die vier Buchstaben L.O.V. und E. gehören mit unter zu den überstrapaziertesten der Popkultur. In dem gleichnamigen Video von Bode finden Sie sich als männliche Markierung im Schnee wieder. Mit CopyCat Pack 2.0 hat Bode bereits im Jahr 2008 das Phänomen der massenhaften, individuellen Neuinterpretationen bekannter Musikstücke auf youtube aufgegriffen, und eine große Menge solcher Videos in einem Bild synchronisiert.
In seinen beiden Videos „Llorett“ und „Kolkata“, greift Benjamin Brix Orte des öffentlichen Raums auf und zeichnet gleichermaßen befremdliche wie berührende Bilder. Es sind stille Betrachtungen einer Realität, die durch die Beobachterposition etwas Bühnenhaftes bekommt. In „Kolkata“ blicken wir in einen Straßenausschnitt Kalkuttas, in der die nächtliche Normalität unterbrochen wird und für eine Moment in eine unwirkliche Situation umschlägt. Das Video „Llorett“ dagegen ist eine Beobachtung im Wasser planschender Touristen im spanischen Badeort Llorett de Mar. Die Beteiligten wirken seltsam unmotiviert und wie in die Szene gestellt.
Julia Charlotte Richter, die bereits 2010 Abschluss gemacht hat und danach Meisterschülerin von Prof. Corinna Schnitt an der HBK Braunschweig war, ist in dieser Auswahl mit zwei Arbeiten vertreten. In „Down the Rabbit-Hole“, einem Teil ihrer damaligen Abschlussarbeit, schweben wir durch einen Raum schlafender Mädchen, die sich in der Metamorphose des Erwachsenwerdens befinden. In „You Hear Something“, das während ihrer Meisterschülerzeit entstand, erzählt eine junge Frau, die in der Blüte ihres Lebens steht, von den körperlichen Veränderungen, die im Moment des Todes eintreten. Aktuelle Arbeiten von Julia Charlotte Richter sind ab dem 5. Mai in einer Einzelausstellung im Kunsthaus Essen zu sehen. Kunsthaus Essen
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Kunsthochschule Kassel